Arbeits- und Sozialrecht: Rechtsprechung

Die Rechtsprechung zum nationalen Urlaubsrecht unterliegt seit dem Jahr 2009 einer stetigen Fortentwicklung durch Auslegung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat zuletzt erneut verbliebene Fragen zu verschiedenen Aspekten des Urlaubsrechts beantwortet und dem EuGH zur Klärung vorgelegt.

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Individualarbeitsrecht

BAG-Urteil zum Verfall von Urlaub bei Langzeiterkrankung

Für durchgehend arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer verfällt der Urlaubsanspruch nach der Rechtsprechung des EuGH und des BAG erst 15 Monate nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres (EuGH vom 22. November 2011 – C-214/10; BAG vom 7. August 2012 – 9 AZR 353/10).

Wesentliche Voraussetzung für den Verfall des Urlaubsanspruchs ist nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des BAG, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt hat, ihren Urlaub zu nehmen. Der Arbeitgeber muss hierfür die Arbeitnehmer dazu auffordern, ihren Urlaub zu nehmen, und ihnen klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn sie ihn nicht nehmen.

Das BAG hatte mit Urteil vom 07.09.2021 – 9 AZR 3/21 entschieden, dass Urlaubsansprüche bei Langzeiterkrankten auch ohne ausdrücklichen Hinweis des Arbeitgebers verfallen, wenn die Arbeitsunfähigkeit bis zum Ablauf der verlängerten 15-monatigen Verfallsfrist fortdauert. Diese Entscheidung war konsequent, denn in solchen Fällen ist die Arbeitsunfähigkeit allein ursächlich dafür, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub nicht nehmen konnte, nicht aber ein Unterlassen des Arbeitgebers.

Mit Blick auf die Abgeltungsansprüche für den Resturlaub des Jahres, in dem die Arbeitsunfähigkeit begann, könne dieses Argument jedoch nicht ohne Weiteres angeführt werden, so das BAG. Ein auf diese Fragestellung gerichtetes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH hat dieser mit Urteil vom 22.09.2022 (Az. C-518/20 und C-727/70) wie folgt beantwortet: Das Erlöschen des Urlaubsanspruchs für das Jahr der Entstehung der Arbeitsunfähigkeit erfolgt nicht automatisch, sondern setzt voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.

EuGH zur Verjährung von Urlaubsansprüchen

Der Europäische Gerichtshof hat auf Grundlage eines weiteren deutschen Vorabentscheidungsersuchens des BAG entschieden, dass Resturlaubsansprüche aus Vorjahren nicht automatisch nach drei Jahren verjähren, wie es die §§ 195, 199 BGB vorsehen. Die Verjährung setze voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub zu nehmen. Hierzu muss er den Arbeitnehmer rechtzeitig auffordern, seinen Urlaub zu nehmen und darauf hinweisen, dass sein Urlaubsanspruch ansonsten verfällt (EuGH, Urteil vom 22.9.2022 – C-120/21). Insofern gelte für die Verjährung von Urlaub nichts Anderes als für den Verfall von Urlaubsansprüchen am Jahresende.

Mit der abschließenden Umsetzungsentscheidung des BAG ist in einigen Monaten zu rechnen. Vor allem bei der Darlegungs- und Beweislast für den Umfang noch offener Urlaubsansprüche sowie für die Erfüllung der arbeitgeberseitigen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten bestehen noch ungeklärte Fragen, denen sich das BAG möglicherweise annehmen wird.

EuGH zum Zusammentreffen von Urlaub und Quarantäne

Von den Landesarbeitsgerichten uneinheitlich beantwortet wurde in den vergangenen Monaten die Frage, ob Urlaubstage vom Arbeitgeber nachgewährt werden müssen, die mit einer behördlichen Quarantäneanordnung als Kontaktperson oder wegen einer symptomlosen Corona-Erkrankung zusammenfallen; dies ist unzweifelhaft der Fall, wenn an Covid-19 erkrankte Beschäftigte gleichzeitig eine Arbeitsunfähigkeit durch ärztliches Attest nachweisen können, § 9 Bundesurlaubsgesetz (BurlG). Der Neunte Senat des BAG hat in dieser Frage ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, Beschluss vom 16.08.2022- 9 AZR 76/22 (A). Der Ausgang dieses Vorlageverfahrens bleibt trotz des seit dem 17. September 2022 geltenden § 59 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vor allem für die Klärung der Rechtslage für Altfälle bedeutsam.

Während des Gesetzgebungsverfahrens für ein Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor Covid-19 wurde in § 59 Abs. 1 IfSG kurzfristig eine Regelung aufgenommen, die eine Nachgewährung von Urlaubstagen vorsieht, während derer ein Beschäftigter in Quarantäne oder Isolation war. Beschäftigte können in diesen Fällen künftig von ihrem Arbeitgeber verlangen, die Tage der Absonderung als nicht genommenen Urlaub gutgeschrieben zu bekommen, ohne dass gleichzeitig eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen haben muss. Das gilt nicht nur für Absonderungen aufgrund SARS-CoV-2, sondern für alle quarantänepflichtigen Infektionen oder einen Infektionsverdacht. Damit wird der Fall der Quarantäne genauso behandelt wie der Fall einer Erkrankung während des Urlaubs (vgl. § 9 Bundesurlaubsgesetz). Die Neuregelung in § 59 IfSG ist auf Fälle seit dem 17. September 2022 anzuwenden.

BAG-Urteil zur Verweigerung von Bedenkzeit vor Abschluss eines Aufhebungsvertrags

Macht ein Arbeitgeber den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig und verweigert dem Arbeitnehmer damit eine Bedenkzeit, ist das laut BAG (Urteil vom 24.2.2022 - 6 AZR 333/21) für sich genommen noch kein Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns und damit auch keine Pflichtverletzung gemäß § 311 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB. Das Gebot fairen Verhandelns als Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertrag wurde vor rund vier Jahren vom sechsten Senat des BAG in der Entscheidung 6 AZR 75/18 vom 7.2.2019 geschaffen und soll immer dann zur Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrages führen, wenn eine Seite eine psychische Drucksituation schaffe, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners deutlich erschwere.

Mit seinem aktuellen Urteil hat das BAG dem Gebot fairen Verhandelns wiederum Grenzen gesetzt und klargestellt, dass der Arbeitgeber kein Rücktritts- oder Widerrufsrecht einräumen und die Unterbreitung einer Aufhebungsvereinbarung vor dem Gespräch nicht ankündigen muss. Ebenso habe die Ablehnung der Bitte des Arbeitnehmers nach Einholung von Rechtsrat keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des Aufhebungsvertrags. Auch sei das Inaussichtstellen einer außerordentlichen Kündigung beziehungsweise die Erstattung einer Strafanzeige für den Fall des Nichtabschlusses des Aufhebungsvertrags nicht zu beanstanden, sofern ein verständiger Arbeitgeber eine solche Kündigung beziehungsweise Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen durfte.

Kollektivarbeitsrecht

BAG-Urteil zur Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats bei Einführung von Microsoft 365

Die unternehmenseinheitliche Nutzung von Microsoft Office 365 mit der Möglichkeit einer zentralen Kontrolle von Verhalten und Leistung der Arbeitnehmer erfordert nach dem Beschluss des BAG vom 8.3.2022 – 1 ABR 20/21 aus zwingenden technischen Gründen eine betriebsübergreifende Regelung, für die der Gesamtbetriebsrat zuständig ist. Die Einführung und Anwendung von Microsoft Office 365 unterliege der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, denn die bei Verwendung des Softwarepakets erhobenen Daten eigneten sich für eine Verwendung zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle der Beschäftigten. Nach § 50 Abs. 1 S. 1 BetrVG sei dafür der Gesamtbetriebsrat als Verhandlungspartner des Arbeitgebers zuständig.

Für die unternehmensweite Nutzung einer Software sei aus zwingenden Gründen eine betriebsübergreifende Regelung erforderlich, wenn ihre Administration nur einheitlich für das gesamte Unternehmen erfolgen kann und dadurch eine Kontrolle von Verhalten und Leistung aller Arbeitnehmer*innen möglich ist, die diese Software nutzen. Eine mögliche betriebsspezifische Nutzungsregelung einzelner Module sei dabei unerheblich.